Nachdem zum 75. Jahrestag der Ankunft der Ungarndeutschen in Gelnhausen und Umland Corona-bedingt im letzten Jahr keine Veranstaltung stattfinden konnte, hatte Eva Michelmann, stellvertretende Sprecherin des Heimatkreises der Alsónánaer, in diesem Jahr zum traditionellen Heimatortstreffen und zur Erinnerung an den Tag vor 76 Jahren eingeladen, an dem die Deutschen nach ihrer Vertreibung aus der ungarischen Gemeinde Alsónána in Viehwaggons im Gelnhausener Gebiet ankamen.
Gesellige Veranstaltung mit Festrede
Mit ihren Kolleginnen und Helfern hatte Frau Michelmann in der Gelnhausener Kinzighalle eine gesellige Veranstaltung vorbereitet, bei der Landesbeauftragte Margarete Ziegler-Raschdorf vor rund 60 Gästen die Festrede hielt. In ihrer Rede hielt sie einen Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung. Seit dem Jahr 1.700 waren deutsche Siedler in die menschenleeren Gebiete Pannoniens, der Batschka und des Bannat gekommen. Von der Habsburger Erzherzogin und Kaiserin Maria Theresia ins Donaudelta geholt, entwickelten sie die Region wirtschaftlich und kulturell. Um 1750 kamen deutsche Siedler auch nach Alsónána, machten das Feld urbar und legten Weingärten an. Sie kamen aus verschiedenen Gebieten, beispielsweise auch aus Hessen. Ziegler-Raschdorf erklärte: „Ende des 18. Jahrhunderts lebten im damaligen Vielvölkerstaat Ungarn mehr als 1 Million Deutsche. Die meisten von ihnen wurden nach 1945 aufgrund des Potsdamer Abkommens vertrieben. So mussten am 28. Mai 1946 auch alle 1.175 Deutschen aus Alsónána bis auf 16 Einwohner ihre Häuser und Höfe verlassen. In einem langen Zug mit Viehwaggons zu jeweils 40 Personen kamen sie, ohne zu wissen, wo die Fahrt hingehen sollte, nach tagelanger Fahrt über Sopron und Passau am 3. Juni 1946 in Sterbfritz im Gelnhausener Gebiet an. Einige wurden in Lager in Mottgers und Ziegelhütte gebracht und von dort auf die Bauerndörfer in Rhön und Vogelsberg verteilt. Mit dem Rest ging es weiter nach Bad Orb. Von dort ging es mit LKWs in das Lager Wegscheide-Mitte im Spessart. Hier wurde die Verteilung auf die Dörfer im Spessart und Vogelsberg vorgenommen.“ Es sei eine schwere Zeit der Armut und des Verzichts in engen Wohnverhältnissen gewesen. Die Ungarndeutschen hätten jedoch die Ärmel hochgekrempelt, brachten ihre Fähigkeiten und Kenntnisse ein und bauten gemeinsam mit den Einheimischen das kriegszerstörte Land wieder auf.
Es sei großartig, dass sich die Alsónánaer in ihrer Heimatortsgemeinschaft bis heute ihren Zusammenhalt bewahrten. Landesbeauftragte Ziegler-Raschdorf dankte Eva Michelmann im Namen der Hessischen Landesregierung für die Organisation des Treffens, die herzliche Atmosphäre und die wunderbare Kuchentheke, zu der viele fleißige Frauen beigetragen hatten: „Die Erinnerung an die verlorene Heimat hat kein Verfallsdatum, sie schmerzt ein Leben lang. In Ihrer Heimatortsgemeinschaft der Alsónánaer erinnern sie sich gemeinsam an ihre Heimat in Ungarn und sind füreinander immer gegenseitige Hilfe und Stütze geblieben. Es ist eine Freude für mich, heute Gast Ihrer beeindruckenden Gemeinschaft zu sein. Über 7 Jahrzehnte hinweg haben Sie ihrer Schicksalsgemeinschaft der ehemaligen Alsónánaer die Treue gehalten. Nur dadurch konnte und kann das Heimatorttreffen so lange bestehen und bis heute stattfinden und kraftvoll wirken. Dafür danke ich Ihnen allen sehr herzlich.“ Die Ungarndeutschen aus Alsónána hätten sich schließlich in Hessen ein neues Zuhause aufgebaut, jedoch seien die Kontakte in die alte Heimat nie abgerissen, die gegenseitigen Besuche der Partnergemeinden Ratznane / Alsónána und Linsengericht seien zu einer schönen Tradition geworden.
Beispielhafte Aufarbeitung hervorgehoben
Wie Ziegler-Raschdorf hervorhob, habe Ungarn innerhalb der Reihe der Vertreiber-Staaten einen beispielhaften Weg beschritten. Es habe die Unrechtsakte der Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit dem nötigen Respekt vor den Opfern in vielen kleinen Schritten aufgearbeitet: „von der Entschuldigung für die Vertreibung über die Annullierung der Kollektivschuldgesetze und Einführung von Entschädigungsregeln bis hin zur Einrichtung einer Landesgedenkstätte, der Durchführung einer Gedenkkonferenz im Ungarischen Parlament und dem einstimmigen Beschluss des Parlaments im Jahr 2012, einen Gedenktag einzurichten, hat Ungarn mit vielen Gesten einen Aussöhnungsprozess mit seinen eigenen Staatsbürgern auf den Weg gebracht, der hochgradig bemerkenswert und beispielhaft ist. So hat Ungarn noch vor den Deutschen selbst einen Gedenktag für ‚seine‘ vertriebenen Ungarndeutschen geschaffen, der jährlich am 19. Januar, dem Tag des Beginns der Vertreibungen im Jahr 1946, stattfindet.“ Heute gebe es eine sehr gute Unterstützung der Landesselbstverwaltung der Deutschen in Ungarn. Die Zusammenarbeit sei partnerschaftlich und mustergültig. Nach einer Volksbefragung des Jahres 2011 lebten heute rund 200.000 Menschen mit deutschen Wurzeln in Ungarn und die deutsche Minderheit sei die einzige Minderheit in Europa, die anwachse.
Deutschland sei insofern Ungarn zu großem Dank verpflichtet für seine Haltung gegenüber den Ungarndeutschen. Ziegler-Raschdorf erinnerte in diesem Zusammenhang auch an das „Paneuropäische Picknick“ an der ungarisch-österreichischen Grenze am 19. August 1989. Damals öffneten mutige ungarische Grenzschützer die Stacheldrahtzäune und ermöglichten dadurch mehr als 600 Menschen aus der DDR, erstmals friedlich den Eisernen Vorhang in Richtung Freiheit zu durchschreiten. Dieses Ereignis habe erheblich zu einer weiteren Destabilisierung des DDR-SED-Regimes geführt und sei ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit gewesen.
In der Kinzighalle saßen die teilweise von weither angereisten Ungarndeutschen mit ihren Gästen an diesem Nachmittag noch lange in gemütlicher Runde bei angeregten Gesprächen und großer Freude über das Wiedersehen bei Kaffee und Kuchen beisammen.